Wozu Diagnosen? Wer braucht sie und wem nützen sie?

„Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat“ – Friedrich Nietzsche

Die Frage nach der Nützlichkeit von Diagnosen wird sozialpolitisch regelmäßig, mitunter heiß diskutiert. Zum Verständnis: PsychiaterInnen und PsychologenInnen orientieren sich bei ihren Einschätzungen stark am Verhalten des Menschen, sie untersuchen und erklären z.B. Persönlichkeitsfaktoren, Einstellungen usw. und viele von ihnen nehmen an, dass Unterschiede zwischen Individuen und auch die Quelle problematischen Verhaltens innerhalb der Person liegen.

Aus systemischer Sicht ist der Mensch an sich nicht als defizitär zu betrachten. Er versucht unentwegt, sich der Umwelt anzupassen, damit diese für ihn in ein Gleichgewicht kommt, selbst wenn der Preis dafür Leiden bedeutet.

Was also ist das Ziel einer Diagnose? Wer braucht sie und wem nützen sie?

Wir erkennen in unserer täglichen Arbeit durchaus den Nutzen von Diagnostik und Diagnosen, weniger aus einer Haltung als vielmehr aus einer Notwendigkeit heraus. Diagnosen sind z.B. Voraussetzung für die Bewilligung und Finanzierung zahlreicher Hilfen und Anschluss-maßnahmen. Sie sichern u.a. den Zugang zu Therapien, Medikamenten, spezieller Förderung und anderer Leistungen der Sozialversicherungen. Für das Familiensystem und die betreffende Person selbst kann eine Diagnose durchaus entlastend erlebt werden. Auch Kindergärten und Schulen könnten durch eine Diagnosestellung Erleichterung erleben und personelle Ressourcen sowie materielle Befugnisse neu verhandeln.

Für unsere inhaltliche Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe können Diagnosen zudem ein Informationsgewinn sein und neue Lösungswege aufdecken. Sie sind nützlich, um unterschiedliche Verhaltens- und Interaktionsmuster zu beschreiben und zu benennen. Wir schauen gerne auf die Funktionen, die diese Phänomene für das System haben. Denn bei zirkulärer Betrachtung haben diese Symptome einen Sinn, es könnte für ein bestimmtes Problem eine Lösung sein.

Kritische Stimmen werden in der Fachwelt lauter, nicht nur von Systemikern. Kritisiert wird u.a., dass zu schnell nach einer Diagnostik „gerufen“ wird, ohne hilfreiche Ressourcen in der Umwelt und im Umfeld der betreffenden Person auszuschöpfen, auch, dass bei der Diagnostik oft lediglich der vorrangige Krankheitsgewinn im Fokus steht, wovon im weiteren Verlauf u.a. die Pharmaindustrie profitiert. Die Defizit- und Problemorientierung von Diagnosen ist zudem nicht von der Hand zu weisen. Individuelle Aspekte einer Person werden oft außer Acht gelassen.

Kritisch zu betrachten ist zudem die Problematik der Entmenschlichung durch Etikette (Labeling-Approach) und andererseits die Förderung der Merkmalsmuster durch die Etikette, was wissenschaftlich belegt ist.

Aus systemischer Sicht sind psychiatrische Erkrankungen und ihre diagnostische Einteilung eine (fach-) gesellschaftliche Konstruktion. Wer entscheidet, was normal ist und nach welchen Kriterien? Die Diskussion betrifft hauptsächlich die kategoriale Betrachtungsweise psychischer Störungen.

Systemiker betrachten die Ansicht der klassischen Psychologie, dass eine lineare Kausalität zwischen Ursache und Symptom besteht, als überholt. Der systemische Ansatz geht davon aus, dass sich Ursachen und Wirkungen in Systemen häufig im Sinne einer kreisförmigen Kausalität gegenseitig bedingen. Die Art und Weise wie mit Diagnosen umgegangen wird, ist demnach auch eine Frage der Haltung. Das, was das Klientensystem über sich erfährt, kann kein Ausdruck der Wahrheit sein, sondern ist Ergebnis eines Beobachtungs- und Konstruktionsprozesses. Fokussiert man in der Arbeit Probleme, wird man Probleme finden. Wer dagegen nach Lösungen sucht, wird Lösungen finden. Man muss oft gar nicht die Dinge verändern, sondern ihre Sichtweise und Interpretation.

Der Mensch mit all seinen Ressourcen und Lösungsversuchen unter Einbeziehung des Kontextes, des persönlichen Leidensdrucks und der Beziehungen untereinander sollte im Vordergrund stehen. Betrachten wir die klinischen Symptome als Kommunikations- und Lösungsversuche, weiten wir unseren Blick und sind in der Lage, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Diagnosen können vage Richtungszeiger sein, die helfen zu verstehen und um klinisches Erfahrungswissen zu aktivieren und gesprächsbereit zu sein mit KollegInnen anderer Fachrichtungen.

Verbinden wir die systemische Grundhaltung mit einem ideografischen Vorgehen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, wechseln wir von einem kategorialen zu einem dimensionalen Denken und entwickeln ganzheitliche Lösungsansätze, die u.a. unseren Klienten in ihrem System gerechter werden. Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung der Diagnose.

Andrea Wilms
Koordination ambulante Hilfe und HzE in KiTa

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